1.4 Das berufspraktische Netzwerk
57
Auf dem Archivtag in Aachen 1991 haben die Gremienvertreter der
Wirtschaftsarchivarer ein Ausbildungsmodell - ggf. mit anderen Archiv-
sparten - plädiert, bei dem von einer gemeinsamen fachlichen Grundaus-
bildung ausgegangen wird, die anschließend archivspartenspezifisch aufge-
stockt und erweitert und von umfassenden Praktika begleitet werden müß-
te.
4
Der integrierte Studiengang „Archiv-Bibliothek-Dokumentation" an
der Fachhochschule Potsdam weist - wenn auch noch nichtr wissen-
schaftliche Archivare - in diese Richtung. Die jüngste Diskussion unter
Staats- und Kommunalarchivaren, ob Archivare Historiker sein müssen
oder gar sein dürfen,
5
stellt sichr Wirtschaftsarchivare in dieser Form gar
nicht, weil die meisten Historiker sind oder als Geisteswissenschaftler an-
derer Fachdisziplinen historisch arbeiten. Wenn sie darüber hinaus ihre ar-
chivarischen Kernaufgaben - Erfassung, Übernahme, Bewertung und Er-
schließung der Archivalien - qualifiziert wahrnehmen, so wird das der
Qualität und Effizienz ihrer Archive oder historischen Informationszen-
tren nur zugute kommen. Im übrigen hängt es stark von der Zielsetzung
des Archivträgers und der persönlichen Disposition des Wirtschaftsarchi-
vars ab, in welchem Ausmaß wissenschaftliche Forschung im Archiv betrie-
ben wird.
6
1.4.3 Tätigkeitsfeld/Anforderungsprofil für Wirtschaftsarchivare
Seit Jahrzehnten sind die Begriffe Archiv und Archivar in der Öffentlich-
keit eher negativ besetzt. In der Wirtschaft ist das viel stärker spürbar als
bei der staatlichen Verwaltung oder in Kommunen. Ein Wirtschaftsarchiv,
das sich nur auf die Verzeichnung von Akten und die Erstellung von Find-
büchern beschränken würde, wäre sozusagen ein „auslaufendes Modell",
die Schließung des Archivs vorprogrammiert, - und es gibt dafür aktuelle
Beispiele.
Andererseits gewinnt der Informationsbereich in Unternehmen, Kam-
mern und Verbänden zunehmend an Bedeutung - nicht zuletzt aus Wett-
bewerbsgründen. Der Mitwirkung am Informationsmanagement ihres Trä-
gers dürfen sich Wirtschaftsarchive nicht verschließen. Die Akzeptanz der
Wirtschaftsarchive wächst nur mit profundem und raschem Service, und
4
Pohlenz, Michael/Eyll, Klara van: Aktuelle Probleme der archivarischen Aus- und
Weiterbildung - Aus der Sicht der Wirtschaftsarchivare, in: Der Archivar 44,1991,
Sp. 126f.
5
Moritz, Werner: Auf der Suche nach Identität. Orientierungsprobleme des archi-
varischen Berufsstandes und ihre Ursachen, in: Der Archivar 50, 1997,
Sp. 238-246.
6
Köhne-Lindenlaub, Renate: Serviceleistungen contra Forschung? Zur Auswer-
tungsproblematik aus der Sicht der Unternehmensarchive, in: Der Archivar 47,
1994, Sp. 64-67.
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1. Der institutionelle Rahmen
nur präsentable Ergebnisse zählen. Qualitätsmanagement und kundenori-
entierter Service müssen auf die Arbeit des Archivs übertragen werden. Es
ist dem Stellenwert des Archivs im Unternehmen nicht abträglich, wenn es
sich historisches Informationszentrum, Historische Dokumentation oder
Unternehmensdokumentation nennt. Interne Serviceleistungenr die
Rechtssicherung und Interessenwahrung gehören heute zu den vorrangi-
gen Aufgaben, z.B. bei der Recherche über Altlasten, Gebäudenutzung,
Patentfragen oder Arbeitsrechtsprobleme. Der andere große Tätigkeitsbe-
reich sind die Serviceleistungenr PR-Zwecke. Die Mitwirkung an allen
erdenklichen Formen der Unternehmenskultur, der corporate identity und
des corporate design nimmt immer größeren Raum im Tätigkeitsspektrum
ein. Im übrigen sind der Kreativität des Archivars keine Grenzen gesetzt,
den Anspruch einzulösen, daß Wirtschaftsarchive das Gedächtnis der Wirt-
schaft sind.
Wenn heute ein Wirtschaftsarchiv zu besetzen ist, so ist nach gegenwärti-
gen Erfahrungen der Generalist gefragt, der Historiker, Organisator, In-
formationsmanager und Öffentlichkeitsarbeiter in einem ist.
In einem Bericht über den zweiten FAW-Lehrgang „Wirtschaftsarchi-
var"
7
ist das Anforderungsprofil genau so beschrieben, wie es vermutlich
auch der Personalchef der Firma Xr eine Ausschreibung in der Wochen-
zeitung „Die Zeit" formulieren würde: „Wissenschaftliche Hochschulaus-
bildung, Erfahrungen auf dem Gebiet der modernen Informations- und
Dokumentationstechnologie, Fähigkeit zur Öffentlichkeitsarbeit und zur
Präsentation, betriebswirtschaftliches Know-how, archivfachliche Kompe-
tenz und nicht zuletzt Kontaktfreude und eine ausgeprägte Leistungsori-
entierung." Im Einstellungsgespräch werden die „human factors" des Be-
werbers, seine psychosoziale Disposition und Persönlichkeitsstruktur eine
mindestens ebenso große Rolle spielen wie fachliche Qualifikation und
Berufserfahrung. Dazu zählen Kommunikationsbereitschaft, Durchset-
zungsvermögen, Kreativität, die Fähigkeit, in wirtschaftlichen Kategorien
zu denken und Identifikationsbereitschaft mit den Unternehmenszielen
des Trägers.
Das Berufsbild des Wirtschaftsarchivars hat seit Beginn der 70er Jahre
einen beachtlichen Wandel durchgemacht. Dabei standen und stehen Pro-
fessionalisierung im historischen wie auch im archivarischen Bereich im
Vordergrund und eine zunehmende Akzeptanz im gesellschaftlichen Um-
feld. Wirtschaftsarchivare sind nicht ausschließlich aber häufigr die Er-
haltung ihrer Arbeitsplätze selbst verantwortlich, das unterscheidet sie von
ihren Kollegen in den öffentlich-rechtlichen Archiven. Sie brauchen neben
einem ausgeprägten Persönlichkeitsprofil ein hohes Maß an intellektueller
7
Vgl. Der Archivar 46,1993, Sp. 167.

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