
1 Einführung in das Vertragsrecht
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(1.2) Ungeschriebenes Recht und Verkehrssitten (Handelsbrauch)
Ungeschriebenes Recht entwickelt sich im Laufe der Zeit insbesondere aus der
dauernden Anwendung von Generalklauseln (= sehr vage formulierten Rechts-
vorschriften) oder von den hinter diesen stehenden Rechtsgrundsätzen, sei es
durch die Rechtsgenossen als Gewohnheitsrecht oder sei es durch Richter als
Richterrecht [vgl. Kapitel 1.1.3 (2)]. Formal gesehen ergänzt es die vertragsrecht-
lichen Vorschriften, inhaltlich konkretisiert es das Vertragsrecht. Es ist mit dem
geschriebenen Recht gleichrangig. Wenn die Juristen vom »positiven« (= gesetz-
tem) Recht oder vom Gesetz sprechen, meinen sie damit auch Gewohnheitsrecht
und Richterrecht.
■ Gewohnheitsrecht
kann unabhängig von der Rechtsprechung entstehen.
Meistens wird seine Entstehung aber durch kontinuierliche Rechtsprechung
unterstützt.
■ Ungeschriebenes Recht kann auch durch die Rechtsprechung alleine entste-
hen, insbesondere z.B. indem der Bundesgerichtshof als oberstes Zivilgericht
erklärt, dass er eine Frage so und so »in ständiger Rechtsprechung« ent-
scheide. Fü r Richter und Rechtsberater hat das faktisch Gesetzeskraft. Denn
der Richter wird dem folgen, und der Rechtsberater geht von diesem Verhal-
ten aus. Deswegen wird vielfach von »Richterrecht« gesprochen [zu Beispie-
len siehe Kapitel 1.1.3 (3)].
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Verkehrssitten entstehen entsprechend, wenn die beteiligten Wirtschaftskreise
während längerer Dauer etwas einheitlich tun oder eine Vereinbarung einheitlich
auslegen und dem als rechtlich richtig zustimmen (»branchenüblich«/»Das ist
doch selbstverständlich«). Das geschriebene Recht ni mmt auf Verkehrssitten aus-
drücklich Bezug [Kapitel 1.1.3 (2) bei den Beispielen zu Generalklauseln]: Ver-
kehrssitte ist mit anderen Worten das, was als Detaillierung der Rechtslage nach
Treu und Glauben bereits von den beteiligten Kreisen anerkannt ist.
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2. Für Richter ist es bequem, sich auf die ständige Rechtsprechung höherer Instanzen zu berufen,
und zeitsparend. Das liegt meist auch im Interesse der dadurch benachteiligten Partei, weil ein
für sie günstiges abweichendes Urteil mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer höheren Instanz auf-
gehoben werden würde. Rechtsanwälte müssen ihre Mandanten darauf hinwei sen.