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Marxzwischen politischer und sozialer Philosophie
In seinem Aufsatz „Pathologien des Sozialen. Zur Tradition und Aktualität der Sozial-
philosophie“ hat Axel Honneth den Versuchunternommen, im Kontext ihrer aktuellen
prekären Situation, die eigenständigeZügeder Sozialphilosophie wieder zu unterstrei-
chen. Das tat er,indem er die These entwickelte, dass „es in der Sozialphilosophie
vordringlichumeine Bestimmung und Erörterung vonsolchen Entwicklungsprozessen
der Gesellschaft geht, die sichals Fehlentwicklungen oder Störungen, eben als Patho-
logien des Sozialen begreifen lassen“ (Honneth 2000, 12). Wenn die Sozialphilosophie
so definiertwird, dann istessofortklar,dass Marxeine ganz wichtigeRolle in dieser
Denktradition gespielt hat. UndAxelHonneth kann sofortdeuten, dass die marxsche
Kapitalismuskritik sozialphilosophischorientiertist,weil der Kapitalismus bei Marx
„nicht bloß als ein Unrecht der gesellschaftlichen Verhältnisse“ und nochweniger als
ein moralisches Unrecht, sondern„als eine Pathologie“ verstanden sein soll (ebd., 27).
Die Weise, in der Marxden Sinn dieser Pathologie verstanden hat, istjenachseiner
Werkphase zwar unterschiedlich. Zur Zeit der Pariser Manuskripten kann man sagen,
dass Marxdie Eigenschaft, sichselbstindem Produkt seiner Arbeit zu vergegenständli-
chen, als „die zentrale Eigenschaft des Menschen“ begreift. Der Kapitalismus kann also
deshalb als Pathologie verstanden werden, weil in ihm und vonihm jede Möglichkeit
zerstörtwird, „den Vollzug des Arbeitens als ein Prozess der Selbstverwirklichung erle-
ben zu nnen“ (ebd., 26), und zwar wird jede Möglichkeit dieser Artsozerstört, indem
die Form der Lohnarbeit dem Arbeiter jede Kontrolle über seine eigene tigkeit ent-
nimmt. Der Kapitalismus stellt also eine Form des sozialen Lebens dar,die pathologisch
ist, weil sie „den Menschen aller Aussichten auf ein gutes Leben beraubt“ (ebd., 27).
Undmeiner Meinung nachhat Axel Honneth ganz Recht, wenn er denkt, dass mit
den späteren Schifften vonMarxsichandieser sozialphilosophischen Orientierung sei-
ner Kapitalismuskritik inhaltlichnichts ändert: Zwar ändernsichdie Termini der Kritik,
nicht aber ihre sozialphilosophische Form.Zwarhandelt es sichjetzt für Marxumdas
neue wissenschaftliche Programm einer Kritik der politischen Ökonomie, aber die Ana-
lyse der historischen Bedingungen der Verwertungslogik des Kapitals zielt immer noch
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darauf deutlichzumachen, dass diese Logik, wenn sie die zentrale Rolle in der Re-
produktion der ganzen Sozialordnung spielt, zu einer sozialen Fehlentwicklung wird,
weil sie „ein befriedigendes Leben unter den Menschen unmöglichmacht“ (ebd., 28).
Das Kritikmodell des späten Marxwürde sichalso auf der Idee gründen, nachwel-
cher der Vorrang der Verwer tungslogik und die Verallgemeinerung der Warenformals
Hindernisse für ein gutes menschliches Leben zu kritisieren sind. Ob mit dem jun-
genoder mit dem späten Marx, es istklar,dass er die Phänomene, die ihn „an der
Gesellschaft seiner Zeit empören“, nicht „als soziale Konsequenzen eines moralischen
Unrechts wahrnimmt“, sondernals „gesellschaftliche Entwicklungen, die dem Ziel der
menschlichen Selbstverwirklichung entgegenstehen“ (ebd., 25). Das alles hat den Sinn,
dass eine sozialphilosophische Kritik an dem Kapitalismus sichvon einem moralpoli-
tischen Protestgegen die Ungerechtigkeit oder die Ungleichheit unterscheidet, die die
kapitalistische Sozialordnung ebenfalls überall mit sichbringt. Es re also möglich,
zwischen den Kapitalismuskritiken in der Hinsicht zu unterscheiden, ob sie sichnor-
mativ auf die Idee eines gerechten gesellschaftlichen Zustands oder auf dieIdee einer
gelungenen Selbstverwirklichung stützen; wobei mit „Selbstverwirklichung“ die Bedin-
gungen eines positiven und befriedigenden Verhältnisses zu sichselbst, zu den Anderen
und zu der Natur gemeint ist–so dass es sichbei der Kritik um die Fragehandelt, ob
eine gesellschaftliche Ordnung diese Bedingungen liefertoder nicht. AufGrund dessen
nnte man dann zwischen politischer Philosophie und sozialer Philosophie so unter-
scheiden, indem man sagen würde, dass die erste sichauf die Hauptkategorien der
Ungerechtigkeit und der Ungleichheit gründet, hrend die zweite –also die soziale
Philosophie –mit den Gr undkategorien der sozialen Pathologie verfährt. Ichbin hier mit
Axel Honneth einverstanden, wenn er in einem Interviewmit Olivier Voirol sagt, dass
„die marxistische Tradition sichfür die sozialen Pathologie viel mehr interessierte als
für die sozialen Ungerechtigkeiten“, und dass „sein persönlicher Beitrag für Marxselbst
vielleicht gewesen ist, bewiesen zu haben, dass die soziale Ungerechtigkeit gleichzeitig
eine soziale Pathologie ist“ (Honneth 2006, 179).
Wasbei Marxzufinden re, re also die Idee einer Identifizierung des Faktums
der Ungerechtigkeit oder der Ungleichheit mit einer sozialen Pathologie, die sichsodar-
stellen würde, dass wir wegender allgemeinen Verwertungslogik vonunseren eigenen
sozialen Lebensbedingungen, vonder äußerlichen Natur wie vonunserer eigenen inner-
lichen Natur entfremdet ren. Die Frage, die zu stellen ist, istzuwissen, ob es bei der
sozialen und der politischen Philosophie um eine Alternativehandelt oder nicht. Und
wenn das Denken vonMarxzuder sozialen Philosophie gehört, dann isteszufragen,
wie dieses Denken sichzuder Politik verhält. Zum Beispiel: wie steht es mit einem Be-
griff wie dem des „Klassenkampfs“? Wieist ein solcher Begriffzuverstehen? Handelt
es sichhier um einen politischen Begriffoder um eine sozusagen „soziologische“ Ka-
tegorie, die uns erlaubt, gesellschaftliche und geschichtliche Prozessen zu beschreiben
und zu verstehen? Wenn Marxund Engels schreiben, dass „die Geschichte aller bishe-
rigenGesellschaft die Geschichte vonKlassenkämpfen ist“ (MEW 4, 462), dann istes
klar,dass es sichhier nicht um politische Strategie handelt. Handelt es sichaber deswe-
genumdie einfache und reine Beschreibung eines geschichtlichen Prozesses oder eines
gesellschaftlichen Zustands? Ichwürde eine positiveAntwortgeben, aber in dem Sinne
eines geschichtlichen Fehlentwicklung oder eines pathologischen gesellschaftlichen Zu-

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