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Vonden ‚kanonischen‘ Texten zu Marx’ ungeschriebenem
Kapital
Letzten Endes beugte er sichdem Druckseiner Freunde. Noch am 31. Juli 1865 hat-
te MarxanEngels geschr ieben „Ichkann michaber nicht entschliessen irgend etwas
wegzuschicken, bevordas Ganze vormir liegt. Whatevershortcomings theymay ha-
ve,das istder Vorzug meiner Schriften, daß sie ein artistisches Ganzes sind, u. das ist
nur erreichbar mit meiner Weise sie nie druckenzulassen, bevorsie ganz vormir lie-
gen. Mit der Jacob Grimmschen Methode istdieß unmöglichu.geht überhaupt besser
für Schriften, die kein dialektischGegliedertes sind.“ (MEGAIII/13, 510) Bereits eini-
ge Monate später begann Marxjedochmit den Vorbereitungen für die Veröffentlichung
des ersten Bandes des Kapital,der 1867 erschien ohne dass das ganze Werk vorihm
gelegen hätte. Zu Marx’ Lebzeiten blieb es bei diesem ersten Band und bis heute do-
minierterdie Rezeption. Behauptet jemand, er oder sie habe das Kapital gelesen, dann
istmeistens nur die Lektüre vonBand eins gemeint. Selbsternsthafte wissenschaftliche
Rezeptionen nehmen häufig nur den ersten Band zur Kenntnis. Man denkenur an die
vielen Abhandlungen über den Fetischismus, die sichauf das erste Kapitel des ersten
Bandes konzentrieren und dabei ignorieren, dass sichdie Fetischismusanalyseauchim
dritten Band mit der Untersuchung des Kapitalfetischs und der „Trinitarischen Formel“
fortsetzt, dass sie Bestandteil eines sicber alle drei Bände erstreckenden Dechiffrie-
rungsprozesses der „Religion of everyday’s life“ (MEGAII/4.2, 852; MEW 25, 838)
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ist.
Nach Marx’ Todgab FriedrichEngels nicht nur den ersten Band neu heraus. In einer
gewaltigen Anstrengung gelang es ihm aus den nachgelassenen marxschen Manuskripten
1885 den zweiten und 1894 den dritten Band des Kapital zu publizieren. Undnach-
dem KarlKautsky 1905–1910 die Theorien über den Mehrwert veröffentlicht hatte, die
weithin als der vonMarxangekündigte vierte, theoriegeschichtliche Band angesehen
wurden, schien es so, als liegenun endlichdas marxsche Kapital vor: in manchen De-
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Grundsätzlichzitiere ichnachder (zweiten) Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), soweit die
entsprechenden Texte dortbereits veröffentlicht sind. rdas Kapital gebe ichparallel die ent-
sprechenden Stellen aus MarxEngels Werke(MEW) an, sofernsie dor texistieren.
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tails zwar unfertig, aber dochals einigermaßen abgeschlossenes Werk. Bis heute bezieht
sichdie Mehrzahl der Auseinandersetzungen auf den Text dieser ‚kanonisch‘ geworde-
nen Editionen, die auchden meisten Übersetzungen zugrunde liegen. In der Regellesen
wir heute die drei Bände des Kapital in den vonEngels besorgten Ausgaben und die
Theorien über den Mehrwert in einer gegenüber KautskysAusgabe leicht verbesserten
Fassung. Den meisten heutigen Lesernund Leserinnen istdie problematische editori-
sche Konstitution dieser Texte aber überhaupt nicht klar: In den ngigen Ausgaben
besitzt keiner der drei Kapital-Bände, auchnicht der erste, eine Textgestalt, die Marx
jemals zu Gesicht bekommen hat; darüber hinaus verdanken sichdie für die Edition der
einzelnen Bände verwendeten Texte ganz unterschiedlichen Entstehungszeiten, sie re-
präsentieren einen jeweils unterschiedlichen Stand der Ausarbeitung der Theorie. Auch
die kritischsten Kapital-Lektüren verhalten sichmeistens weitgehend unkritischgegen-
über den benutzten Textfassungen. Dabei sind die inhaltlichen Probleme, die aus der
editorischen Zurichtung der Texte resultieren, keineswegs zweitrangig.
Im Folgenden soll es um zwei Problemkomplexe gehen: zum einen um die Diffe-
renzen zwischen den ‚kanonischen‘ Textfassungen der engelsschen Edition und den
marxschen Kapital-Manuskripten, die inzwischen in der zweiten Abteilung „Kapital und
Vorarbeiten“ der MEGAvollständig publiziertsind; zum anderen um den marxschen
Forschungsprozess der 1870er Jahre, der auf eine weitgehende Umarbeitung, nicht
nur der geplanten Bände zwei und drei, sondernauchdes ersten, bereits erschienenen
Bandes hinauslief. Die Diskussion des ersten Komplexesmacht deutlich, dass es für
eine wissenschaftliche Diskussion des Kapital unumgänglichist,sichauf die marxschen
Originalmanuskripte zu beziehen. Die Untersuchung des zweiten Komplexeszeigt, dass
diese Originalmanuskripte eine inhaltliche Entwicklung aufweisen, die jene Struktur
des Kapital,wie sie vonMarxinden 1860er Jahren entwickelt wurde und die sichauch
in den ‚kanonischen‘ Textfassungen widerspiegelt, grundlegend in Fragestellt: In den
1870er Jahren deutet sichbei Marxein wesentlichverändertes Kapital an –das aber
ungeschrieben bleibt.
1. Die ‚kanonischen‘ Textfassungen und ihre Probleme
ein Überblick
Wieaus dem Vorwortdes 1867 erschienenen ersten Bandes hervorgeht, sollte das Kapi-
tal vier Bücher umfassen (vgl. MEGAII/5, 14; MEW 23: 17), Produktionsprozess des
Kapitals (BuchI), Zirkulationsprozess des Kapitals (BuchII), Gestaltungen des Gesamt-
prozesses (BuchIII), Geschichteder Theorie (BuchIV).
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Die vonmir als ‚kanonisch‘
bezeichnete Edition dieser vier Bücher liegt auchder weit verbreiteten Kapital-Ausgabe
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Diese vier Bücher sollten in drei Bänden erscheinen: Band zwei sollte BuchIIund BuchIII
enthalten, Band drei dann BuchIV. Nachdem Engels BuchIIund BuchIII in separaten Bänden
veröffentlichte istdie Unterscheidung zwischen Buchund Band eigentlichhinfällig geworden. Sie
istaber wichtig, um den marxschen Briefwechsel zu verstehen: Wenn in den 1870er Jahren vom
„zweiten Band“ die Rede ist, dann istdamit nicht nur BuchIIgemeint, das Engels als zweiten
Band edierthat, sondernesist BuchIIund BuchIII angesprochen.

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