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Entfremdung und ökonomische Rationalität
In seinen frühen Aufzeichnungen zur Ökonomie schreibt Marx, dass „die Nationalöko-
nomie die entfremdete Form des gesellschaftlichen Verkehrs als die wesentliche und
ursprüngliche und der Menschlichen Bestimmung entsprechende fixirt.“
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Dieses Urteil
beinhaltet (schon in den frühen Aufzeichnungen) mehr als nur eine kritische Zurückwei-
sung. Zwar „fixirt“ die Nationalökonomie eine entfremdete Form des gesellschaftlichen
Verkehrs. Sie behandelt also die kontingenten Gesetzmäßigkeiten, die einen entfremde-
ten Zustand charakterisieren, als invariante Gesetze allen menschlichen Lebens. Aber
zugleicherfasstsie diesen entfremdeten Zustand eben auchund Marxfindet in ihr das
begriffliche Instrumentarium, das diesen Zustand zu beschreiben und, reflektiertund
konsequent angewendet, zu kritisieren erlaubt.
Autorinnen und Autoren, die heute kritische Gesellschaftstheorie betreiben, scheinen
oft eine weniger differenzierte Sicht auf das aktuell dominante Paradigma der Wirt-
schaftswissenschaften, die so genannte neoklassische Theorie, einzunehmen. Schon
Marxhatte gegendieses Paradigma eingewandt, dass der Markt mit Angebot und
Nachfragenur Schwankungen im Preis erklären nne, nicht aber die Entstehung und
die Natur des Wertserfasse (vgl. MEW 23, 560). Nurwenigekritische Theoretikerinnen
und Theoretiker teilen heute nochMarxens uneingeschränkte Befürwortung der Ar-
beitswerttheor ie. Ihre Ablehnung der neoklassischen Ökonomie beruht nicht auf diesem
speziellen sachlichen Einwand sondernauf allgemeineren Diagnosen, die heutige
Wirtschaftswissenschaft sei unkritisch, ‚affirmativ‘, ‚atomistisch‘, ‚subjektivistisch‘,
‚ahistorisch‘, ‚undialektisch‘, und wasdergleichen Schmähworte mehr sein mögen.
Ichmöchte hier für einen produktiveren kritischen Umgang mit den Begriffen, An-
nahmen und Theoremen der zeitgenössischen Wirtschaftswissenschaften plädieren. Eine
Neulektüre derNeoklassik zum Zweckder kritischen Reflexion re, so scheint mir,
durchaus im Geiste vonMarx. Noch mehr Spott als für klassische Ökonomen hatte
Marxfür die (deutschen) Theoretikebrig, die die ökonomische Wissenschaft seiner
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In den Mill-Exzerpten, nun neu herausgegeben unter dem Titel „Das Konzept der Anerkennung“
vonM.Quante, in: Marx2009, 196.
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Zeit entweder ignorieren oder aber dogmatischnachbeten, in beiden llen ohne in ihr
ein fruchtbares Feld zum kritischen Weiterdenken zu finden (MEW 23, 19 ff.). Bei-
de Haltungen, so scheint mir,sind auchimUmgang mit der Neoklassik Fehler.Mir
scheint, dass die Neoklassik uns in einigen Punkten das liefert, wasMarxauchinder
klassischen Nationalökonomie vorgefunden hat: Eine aufschlussreiche Selbstbeschrei-
bung einer entfremdeten Praxis. Um diesen Vorschlag zu stützen, werde icheinigeIdeen
und Modelle der zeitgenössischen Ökonomie –speziell das neoklassische Verständnis
des Arbeitsmarktes, die Theorie der Effizienzlöhne und die sogenannte Transaktionskos-
tenökonomik –imHinblickdarauf untersuchen, ob sichinihnen nicht ebenfalls Formen
vonEntfremdung „fixirt“ finden. Undinder Tat, so möchte ichdarlegen, zeichnen sich
in diese Konzeptionen Formen der Entfremdung vonder eigenen Arbeit und vonden
eigenen Zielen sowie der Entfremdung vonder sozialen Gemeinschaft ab.
Wieso diese Form der Auseinandersetzung? Die einfache Sicht der ‚unkritischen‘
Neoklassik hat Nachteile für das Projekt einer kritischen Theorie. Werdarauf beharrt,
dass nur die marxsche Konzeption der Ökonomie sichwirklichzur Analysevon Span-
nungen und Pathologien des Kapitalismus eignet, der macht seine Kritik nolens volens
voneinigen extrem kontroversen ökonomischen Prämissen abhängig. So muss der kri-
tische Theoretiker sichdie berechtigte Fragegefallen lassen, ob Diagnosen, die sich
nur in seiner umstrittenen Theorie artikulieren lassen, nicht vielleicht nur Artefakte der
Theorie sind. Diese Schwäche lässtsichleicht auchpolitischinstrumentalisieren. Wann
immer vonAusbeutung oder Entfremdung die Rede ist, kann ein Apologet des Kapita-
lismus abwinken und durchdie Zurückweisung der marxschen Ökonomie den Eindr uck
erwecken, Ausbeutung und Entfremdung existier ten nur einer verfehlten Theorie zufol-
ge.Aber auchabgesehen davonist es politischhilfreich, bestimmte kritische Diagnosen
auchineinem theoretischen Rahmen artikulieren und begnden zu nnen, den auch
Vertretergegnerischer Positionen akzeptieren.
Angesichts dessen versuche ichmichhier an ein paar ersten, einfachen Schritten zur
Prüfung der Frage, ob die aktuelle ökonomische Theorie für systematische Diagnosen
sozial bedingter Pathologien nicht vielleicht docheinigefruchtbare Ansatzpunkte bietet.
Speziell für die Theorie der Entfremdung möchte ichfolgendes plausibel machen: Die
Neoklassik erfassteine Form vonEntfremdung. Diese ist, wie bei Mar x, weniger ein
subjektives, psychisches Phänomen als ein soziales. Die Regeln des Marktes verlangen
eine Abstraktion vonbestimmten –intuitiv relevanten –Aspekten unseres Tuns. Als Teil-
nehmer am Markt haben wir daher Grund, einander eine entsprechende abstrahierende
Haltung zuzuschreiben. Dieser Prozess der „Realabstraktion“, so kann man neoklassisch
zeigen, führtzuhandfesten Konsequenzen –etwazuunfreiwilliger Arbeitslosigkeit und
zur Erosion vonSolidarität.

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