6.1 Die Sonderregelung für den Montanbereich 139
6.1 Die Sonderregelung für den Montanbereich
Die MontanMitb (einführend Borsdorf/Müller 1987) hat charakteristische Elemente:
Sie sieht in Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden,
nicht hingegen der weiterverarbeitenden Industrie mit mehr als 1.000 Arbeit-
nehmern echte Parität zwischen Kapital und Arbeit vor; beide Seiten entsenden
eine gleiche Zahl von Vertretern in den AR, d. h. je 5, 7 oder 10 je nach Höhe
des Nenn- oder Grundkapitals des Unternehmens. Jede Seite hat neben den Ver-
tretern aus dem Unternehmen noch ein weiteres externes Mitglied, das im Unter-
nehmen weder als Arbeitgeber oder als Arbeitnehmer tätig noch an ihm wirt-
schaftlich wesentlich interessiert sein darf. Die Hauptversammlung, die Ver-
sammlung aller Anteilseigner mit bestimmten Entscheidungsvorbehalten, wählt
formal alle AR-Mitglieder
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; sie ist aber bei der Wahl der Arbeitnehmervertreter
an die Vorschläge der Gewerkschaft bzw. des Betriebsrats gebunden, die dadurch
über ein Vetorecht verfügen.
Beide Seiten müssen sich auf ein weiteres Mitglied verständigen, welches auf
Vorschlag der übrigen AR-Mitglieder von der Hauptversammlung gewählt wird.
Dieser sog. Neutrale soll mögliche Pattsituationen bei Stimmengleichheit auflö-
sen, d. h. Mehrheitsentscheidungen ermöglichen und damit die Beschluss- und
Funktionsfähigkeit des AR auf jeden Fall garantieren.
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Schließlich wird innerhalb des dreiköpfigen Vorstands gleichberechtigt der Ar-
beitsdirektor eingeführt. Er kann nicht gegen die Mehrheit der Stimmen der Ar-
beitnehmervertreter im AR bestellt oder abberufen werden.
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Die Einrichtung der Position des Arbeitsdirektors, der zumeist neben kaufmänni-
schem und technischem Direktor dem Vorstand als gleichberechtigtes und voll ver-
antwortliches Mitglied angehört, trägt wesentlich zu einer Verbesserung des Infor-
mationsflusses sowie der Mitb in Personal- und Sozialfragen bei. Der von ihm ver-
tretene Bereich „Personal- und Sozialwesen“ wird erheblich von Arbeitnehmerinte-
ressen beeinflusst und innerhalb des Unternehmens aufgewertet. Allerdings werden
auch Entfremdungsprozesse beklagt. Der Arbeitsdirektor befindet sich in einer ge-
wissen „Zwitterstellung“ bzw. in einem Loyalitätskonflikt: Einerseits erwarten die
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Nach dem MitbG von 1976 wählt die Hauptversammlung nur die Mitglieder der Anteilseigner.
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Die Neutralen, die häufig als „Zünglein an der Waage“ bezeichnet werden, sind zumeist höhere
Beamte oder bei Banken beschäftigt; die Hauptversammlung besteht i. d. R. nicht auf ihrem Letzt-
entscheidungsrecht.
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Diese weit reichende Vetoposition der Arbeitnehmervertreter gemäß § 13 wurde schon in der Hol-
dingnovelle von 1956 für Muttergesellschaften von Konzernen nicht mehr vorgesehen. Demnach
wird der Arbeitsdirektor wie die übrigen Mitglieder des Vorstands bestellt und abberufen.
140 6 Mitbestimmung II: Unternehmensebene
Arbeitnehmer von ihm eine eindeutige Vertretung ihrer Interessen („Treuhänder-
funktion“), andererseits hat er sich als Vorstandsmitglied für die Interessen des Un-
ternehmens einzusetzen (Spieker 1992).
Die Regelungen der MontanMitb ermöglichen ein hohes Maß an Information und
Einfluss gegenüber den Unternehmensleitungen; sie führen zu einer frühzeitigen
Beteiligung der Arbeitnehmervertreter an unternehmerischen Entscheidungsprozes-
sen.
201
Diese Verfahrensweisen dürften wesentlich dazu beigetragen haben, dass der
säkulare Umstrukturierungs- und Schrumpfungsprozess der Krisenbranchen Kohle
und Stahl weitgehend ohne Massenentlassungen und stattdessen u. a. durch Abfede-
rung über Sozialpläne und Frühpensionierungen vonstatten ging. Neben diesen posi-
tiven sozialen Folgen lassen sich auch keine negativen wirtschaftlichen Konsequen-
zen (z. B. für die Investitionstätigkeit der Unternehmen oder die Dividenden- oder
Kapitalbeschaffungspolitik) feststellen (Adams/Rummel 1977, 10ff.; Vitols 2006).
Die Regierung der Großen Koalition setzte 1968 eine Sachverständigenkommission
ein, die nach ihrem Vorsitzenden häufigBiedenkopf-Kommission“ genannt wurde
und die eine „Auswertung der bisherigen Erfahrung mit der Mitbestimmung“ durch-
führen sowie Vorschläge zur Novellierung unterbreiten sollte. Der auf der Grundla-
ge von Anhörungen und einer schriftlichen Befragung zahlreicher Unternehmen
erarbeitete Erfahrungsbericht wurde 1970 der Regierung der ersten sozial-liberalen
Koalition vorgelegt (Mitbestimmungskommission 1970). Die Kommission stellte u.
a. fest, dass „von einer negativen Einflussnahme der Mitbestimmungsträger auf die
unternehmenspolitische Planung der Unternehmensleitung nicht gesprochen werden
kann“
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; die MontanMitb führe zu einer stärkeren Betonung der sozialen Aspekte
unternehmerischen Handelns, ohne jedoch das Rentabilitätsprinzip in Frage zu stel-
len; von einer Unverträglichkeit zwischen MontanMitb und bestehender Wirt-
schaftsordnung könne keine Rede sein; die paritätische Mitb führe nicht zur Funkti-
onsunfähigkeit der Unternehmen. Das Urteil der Kommission über die Erfahrungen
mit der MontanMitb war insgesamt positiv
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; sie votierte für eine Ausweitung der
Mitb über den Rahmen des BetrVG von 1952 hinaus, ohne allerdings eine paritäti-
sche Lösung nach dem Montanmodell zu befürworten.
Wegen der langfristig abnehmenden Bedeutung der ehemaligen Schlüsselindustrien
Kohle und Stahl für die Gesamtwirtschaft (säkularer Strukturwandel, Subventions-
politik der EG) sowie aufgrund betriebswirtschaftlich bzw. unternehmenspolitisch
201
Vgl. zu faktischen Unterschieden zwischen der Montan-Mitb und dem Mitb-Gesetz von 1976 im
Einzelnen Staehle/Osterloh (1985, 804ff.).
202
Eine Zusammenfassung der Ergebnisse gibt Streeck (1984, 397ff.); vgl. auch Gerum (1989, 56ff.).
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Schließlich haben im Montanbereich trotz erheblicher Strukturprobleme keine Arbeitskämpfe
stattgefunden, wozu die spezifischen Regelungen dieser weitestgehenden Form der Mitb wesentlich
beigetragen haben dürften.

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