10 Arbeitsmarktprobleme I:
Theorien
10.1 Zur Einführung: Neoklassische und
institutionalistische Ansätze
Arbeitsmärkte, die nicht nur wirtschaftliche, sondern auch gesellschaftliche Institu-
tionen sind, erfüllen zwei zentrale Aufgaben: Sie vermitteln Angebot und Nachfrage
von Arbeitskräften in quantitativer wie qualitativer Hinsicht (Ausgleichsfunktion)
und verteilen individuelle und gesellschaftliche Chancen materieller und immateriel-
ler Art nicht nur auf die Arbeitskräfte, sondern auch auf die übrigen Individuen
(Verteilungsfunktion). In der Realität fallen beide Funktionen häufig auseinander.
Ausgangspunkt der theoretischen und politischen Überlegungen sind unterschiedli-
che Annahmen über die Funktionsweise. Seit langem wird die Frage diskutiert, ob
Arbeitsmärkte Märkte wie andere sind, also wie die für Teppiche, Gebrauchtwagen
oder Bananen, oder ob grundsätzliche Unterschiede bestehen. Anders formuliert:
Funktionieren Arbeitsmärkte nach den Prinzipien von Angebot und Nachfrage, also
nach der reinen „Marktlogik“, wovon die Mehrzahl der neoklassisch orientierten
Ökonomen überzeugt ist, oder üben andere Allokationsmechanismen und Institutio-
nen Einfluss aus, wie dies Sozialwissenschaftler (Sengenberger 1987; Bäcker et al.
2008) und institutionalistisch orientierte Ökonomen (Zerche et al. 2000) annehmen?
Wir vertreten die zuletzt genannte Position, wonach Arbeitsmärkte wesentliche Be-
sonderheiten aufweisen:
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Die Arbeitskraft als Ware ist mit spezifischen Eigen-
schaften (property rights) ausgestattet; gekauft werden nicht Arbeiter, sondern deren
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Gegen eine Gleichsetzung von Arbeits- und Gütermärkten sprechen folgende Bedingungen: „Men-
schen werden nicht für den Markt produziert ..., auf dem Arbeitsmarkt werden weder Ströme noch
Bestände fertiger Arbeitsleistungen gehandelt, sondern nur Potentiale solcher Leistungen ..., auf
dem Arbeitsmarkt sind die Produzenten gleichzeitig auch Konsumenten ..., und schließlich hat die
Qualität der Ware „Arbeitskraft“ auf dem Arbeitsmarkt einen viel entscheidenderen Einfluss als die
Qualität der Güter auf dem Gütermarkt“ (Schmid 1987, 36).
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Arbeitskraft bzw. Leistungen, die mit diesen untrennbar verbunden sind und die
aufgrund der Einkommens- und Vermögenssituation nicht dauerhaft zurückgehalten
werden können. Insofern besteht ein Verkaufszwang der Ware Arbeit bzw. ein struk-
turelles Machtungleichgewicht. Der Arbeitsvertrag ist aufgrund von Transaktions-
kosten (u. a. Einstellungs-, Einarbeitungs- und Entlassungskosten) sowie Informati-
onsasymmetrien nur unvollständig zu spezifizieren: Während Arbeitszeiten und
Entgelte im Vorhinein recht genau festgelegt werden können, gilt dies für die tat-
sächliche Arbeitsleistung nur begrenzt. Die Bereitschaft zur Kooperation ist nicht
voraussetzungslos; Leistungszurückhaltung (shirking) können zum Problem werden.
Diese Besonderheiten bedingen, dass Institutionen und Regeln das Geschehen maß-
geblich beeinflussen (Solow 1990). Im Gegensatz zu Güter- und Geldmärkten exis-
tieren auf Arbeitsmärkten Institutionen, insbesondere Gewerkschaften und Arbeit-
geberverbände, welche den Lohnbildungsprozess bzw. das Marktergebnis ebenso
beeinflussen wie gesetzliche und tarifvertragliche Vorgaben sowie andere Normen
(Buttler et al. 1987; Bewley 1999). Institutionen schaffen opportunities and cons-
traints, können sowohl effizienzsteigernd als auch effizienzmindernd wirken. Wäh-
rend ihre Einrichtung zunächst Transaktionskosten verursacht, senken ihre vermit-
telnden Funktionen später Transaktionskosten (Ulman 1992; Sesselmeier 1993).
Weiterhin müssen institutionelle Besonderheiten einzelner Länder bei der Analyse
des Arbeitsmarktes als „soziale Institution“ (Solow 1990; Piore 1993) Eingang fin-
den, weil sie zu unterschiedlichen (makro-)ökonomischen Ergebnissen führen (u. a.
Arbeitslosenquote, Wirtschaftswachstum, Preisstabilität) (Traxler et al. 2001, Blau/
Kahn 2002). Zu diesen Determinanten gehören die Arbeitsbeziehungen einschl. der
Koordinierungs- und Zentralisierungsgrade der Kollektivverhandlungen (vgl. Kap.
7) sowie die berufliche Bildung. – Darüber hinaus setzt der Staat durch Gesetzge-
bung und Rechtsprechung Rahmenbedingungen für die Aktivitäten der privaten
Akteure (vgl. Kap. 4). Neben dieser in der Bundesrepublik ausgeprägten „Verrecht-
lichung“ durch prozedurale Vorgaben greift der Staat auch mit Hilfe anderer Instru-
mente regulierend ein. Er kann sich im Rahmen korporatistischer Arrangements um
Kooperation mit den Tarifparteien bemühen und betreibt Arbeitsmarktpolitik mit
dem Ziel der Realisierung eines hohen Beschäftigungsstandes bzw. der Verhinde-
rung von Arbeitslosigkeit.
Arbeitsmarkttheorien lassen sich unterteilen in neoklassisch und institutionalistisch
orientierte (Ehrenberg/Smith 2006; Kaufman/Hotchkiss 2005). Die Mehrzahl basiert
aus ihrer mikroökonomischen Perspektive auf individuellem Entscheidungsverhalten
und dem Markt-Preis-Mechanismus und vernachlässigt Institutionen. Diese Aus-
klammerung der institutionellen Verfassung führt zur Überbewertung des Lohnes als
Steuerungsmechanismus. Ausnahmen sind u. a. die Segmentationstheorien, die er-
weiterten Versionen der Insider-Outsider-Ansätze sowie sozialwissenschaftliche
Analysen.

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