1.2 Entwicklung und Typologie der Wirtschaftsarchive 13
ständiger Lösungenr das anstehende Problem der Archivierung über-
nahm.
Hier ist an Hedwig Behrens zu erinnern, die 1938 bei der VSt als Sach-
bearbeiterinr Werksarchivfragen und Leiterin der neugeschaffenen
„Beratungssteller Werksarchive" eingestellt wurde. In dieser Eigen-
schaft hatte sie die Aufgabe, die einzelnen Konzerngesellschaftenr die
Archivarbeit zu interessieren und bei der Einrichtung eigener Werksarchi-
ve anzuleiten. Man wählte bei der VSt demnach den Weg der dezentralen
Archivorganisation, die jedoch durch einen einheitlich anzuwendenden
„Planr die Gliederung des Archivmaterials" zusammengebunden wer-
den sollte.
In zahlreichen Konzerngesellschaften der VSt ging man tatsächlich noch
vor dem Krieg daran, hauptamtlich betreute Werksarchive einzurichten -
so etwa, um einige wenige Beispiele herauszugreifen, bei der August Thys-
sen-Hütte AG in Duisburg, der Deutschen Röhrenwerke AG in Düssel-
dorf und der Deutschen Eisenwerke AG in Mülheim.
Diese Archivgründungen der Montanindustrie weckten den Plan, auch
in anderen Branchen verstärktr den Gedanken unternehmenseigener
Archive zu werben. Doch der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verhinder-
te eine Realisierung dieser Ziele. Die 1941 erfolgte Gründung eines neuen
Regionalen Wirtschaftsarchivs - des Westfälischen Wirtschaftsarchivs in
Dortmund - erwies sich hingegen als tragfähiges Fundamentr die Zu-
kunft.
1.2.2 Vom Kriegsende bis in die Gegenwart
Die Entwicklung im Westen Deutschlands
Die Entwicklung nach 1945 ist aufgrund der Teilung Deutschlands dif-
ferenziert zu betrachten. „Fortschritt aus Tradition" kennzeichnet die Si-
tuation im Westen. Im Osten hingegen haben die völlig veränderten politi-
schen und gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse auch im Archivwesen der
Wirtschaft zu einer grundlegenden Neuorientierung und Umstrukturie-
rung geführt.
Wirft man zunächst einen Blick auf die Entwicklung im Westen, so setz-
te hier Mitte der 1950er Jahre eine neue - und anhaltende - Aufschwung-
phase ein, in der die Archivgutpflege der Wirtschaft auf den in der Vergan-
genheit geschaffenen Fundamenten entscheidend ausgebaut worden ist.
Einige „Meilensteine" auf dem Weg in die Gegenwart seien kurz ange-
sprochen:
Hier ist zunächst die 1957 erfolgte Gründung der „Vereinigung deut-
scher Werksarchivare" - der Vorläuferin der heutigen „Vereinigung deut-
14
1. Der institutionelle Rahmen
scher Wirtschaftsarchivare" (VdW) - zu nennen.
8
Dieser erste und bislang
einzige überregionale Fachverbandr das Archivwesen der Wirtschaft hat
sich insbesondere die Aus- und Weiterbildung seiner Mitglieder in spe-
ziellen Grund- und Aufbaukursen, aber auch über das Medium der Jahres-
tagungen zum Ziel gesetzt. Bedenkt man, daß der Archivar in der Wirt-
schaft häufig mit völlig „sachfremder" Vorbildung und Berufserfahrung an
seine archivischen Aufgaben herangehen muß, kommt diesen Maßnahmen
der VdW besondere Bedeutung zu. Darüber hinaus bietet die seit 1967 er-
scheinende Zeitschrift „Archiv und Wirtschaft" vielfältige aktuelle Sach-
informationen, die der oftmals als „Einzelkämpfer" wirkende Wirtschafts-
archivar ebenso zu schätzen weiß wie der Historiker im In- und Ausland.
Neben der Gründung der VdW als eigenständiger Organisation des Ar-
chivwesens der Wirtschaft und der Etablierung der Wirtschaftsarchivare
als Fachgruppe 5 im „Verein deutscher Archivare" 1962 ist in dem hier zu
betrachtenden Zeitraum ein weiteres Novum zu verzeichnen:
Mit der 1969 - im Zuge der Strukturkrise des Ruhrkohlenbergbaus - er-
folgten Gründung des Bergbau-Archivs in Bochum wurde erstmals der Ty-
pus eines „Branchenarchivs" verwirklicht. Der deutsche Buchhandel sowie
die Porzellanindustrie sind inzwischen diesem Beispiel gefolgt.
Aber auch die „klassischen", bereits zu Jahrhundertbeginn ent-
standenen Sparten des Archivwesens der Wirtschaft konnten in den Jahr-
zehnten nach dem Zweiten Weltkrieg weiter ausgebaut werden:
Im Bereich der regionalen Wirtschaftsarchive ist es inzwischen zu Neu-
gründungen in Baden-Württemberg, Hessen und Bayern gekommen. Und
was die Unternehmensarchive betrifft, so findet sich dieser vormals insbe-
sondere in der Montanindustrie anzutreffende Archivtypus heute in nahe-
zu allen Wirtschaftszweigen. Anzumerken bleibt jedoch, daß die Zahl der
Betriebe, die sich eigene Archive leisten, immer noch gering ist im Ver-
gleich zur Vielzahl traditionsreicher Unternehmen unseres Landes.
Soviel im Überblick zur Entwicklung in der „alten Bundesrepublik"
bzw. den heutigen westlichen Bundesländern. Grundcharakteristikum ist
dabei - wie bereits in der ersten Aufbauphase eines eigenständigen Ar-
chivwesens der Wirtschaft - das Moment der Freiwilligkeit: Archivgut-
pflege im Bereich der Privatwirtschaft, eingebunden in den Gesamtrah-
men freiheitlicher Wirtschaftsordnung, erfolgte und erfolgt nicht aufgrund
staatlicher Anordnung und gesetzlicher Regelung. Sie basiert vielmehr auf
der individuellen „Einsicht in die Notwendigkeit" und der „zwang-losen"
Bereitschaft, die Obsorge um die Quellenzeugnisse der Vergangenheit
ernstzunehmen.
8
Vgl. Eyll, Klara van: 25 Jahre VdW: Bilanz - Standort - Perspektiven, in: Archiv
und Wirtschaft 16,1983, S. 85-96.

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