2 Die Integration moderner
Gesellschaften
Die Entwicklung moderner Gesellschaften zeigt zunehmend ihre Schattenseiten. Vor dem
Hintergrund von Dauerarbeitslosigkeit, einer sich öffnenden Schere zwischen Arm und
Reich, Bildungsnotstand und Kriminalität, Jugenddelinquenz, Jugendgewalt, Verwahr-
losungstendenzen, Verweigerungshaltung und Null-Bock-Mentalität diagnostizieren die
Sozialwissenschaften auchr die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland zu-
nehmende Anomieerscheinungen, Entfremdungstendenzen, Entsolidarisierung, Orientie-
rungsprobleme und Desintegration. Gemeinhin werden diese Symptome als Folge des
schnellen gesellschaftlichen Wandels, zunehmender Flexibilisierung und Mobilität in den
Lebensverhältnissen oder wirtschaftlicher Unsicherheit auch bei den Mittelschichten be-
schrieben.
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Schon die Kurzfassung der Krisendiagnose verweist unweigerlich auf die Be-
dingungen der modernen Gesellschaft. Diese Bedingungen können auf einen Nenner ge-
bracht werden: die Entstrukturierung der Gesellschaft,
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Damit gemeint ist die zunehmende
funktionale und soziale Differenzierung, die sich in Pluralisierung, Individualisierung und
Rationalisierung der Gesellschaft niederschlägt und zu einer immer stärkeren gesellschaftli-
chen Heterogenität fuhrt. In der soziologischen Diskussion wird vorwiegend die Auffassung
vertreten, die funktionale und soziale Differenzierung vertrage sich nicht mit dem Fortbe-
stand übergreifender und allgemein verbindlicher Sinn- und Wertesysteme. Andererseits aber
seien diese Sinn- und Wertesysteme die Voraussetzung fur individuelle und gesellschaftliche
Integration. Der hohe Stellenwert gemeinsam geteilter sozialer Werte und Normen liege
darin begründet, dass es keinen sozialen Zusammenhalt geben könne, wenn die Gesell-
schaftsmitglieder nicht ein Mindestmaß an Übereinstimmung teilen und sich in Werten und
Lebensweise ähnlich seien.
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Die ernüchternde Schlussfolgerung aus dieser zwiespältigen
Beobachtung führt zu einem soziologischen Dilemma: Die Möglichkeitenr die Integration
der modernen Gesellschaft schwänden, nicht aber der Bedarf an Integration: „Je mehr sich
die soziale Struktur differenziert und spezialisiert, desto notwendiger wird ein allgemeines
System von Werten, Normen und Bedeutungen, um die verschiedenen spezialisierten Einhei-
ten aufeinander abzustimmen."
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Verstärkt werde diese Tendenz durch das Phänomen der
Rationalisierung, die die kulturelle Seite der Modernisierung sei. Dieses Phänomen meint,
dass sich die Individuen in ihren Handlungen zunehmend an reinen Nützlichkeitsüberlegun-
gen orientierten. Die Folge davon sei, dass der Konsens über grundlegende Werte weiter
abnehme.
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Eng mit der Differenzierungsthese verbunden ist die These einer zunehmenden Individuali-
sierung. Sie wird fur jedermann greifbar an der abnehmenden Bedeutung traditioneller Rol-
lenmuster in Beruf, Familie und Geschlechterverhältnis.
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Die Individualisierungsthese be-
zieht sich sowohl auf die Makroebene der Gesellschaft wie auch auf die Mikroebene des

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