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Schluss
Assimilation. Vergeben sie jedoch Vornamen, die allein in ihrem Herkunftsland gebräuchlich
sind, so gehen sie davon aus, dass keine kulturell-identifikatorischen Anpassung an die Auf-
nahmegesellschafit stattgefunden hat.
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Die ausgewerteten Daten zeigen, dass sich Einwan-
derer aus der Türkei noch weniger mit der Kultur der Aufnahmegesellschaft identifizieren als
Immigranten aus dem ehemaligen Jugoslawien oder den romanischen Ländern Italien, Spa-
nien, Portugal. Über 90 Prozent der Einwanderer aus der Türkei geben ihren Kindern Vorna-
men, die nur im Herkunftsland gebräuchlich sind. Bei Immigranten aus dem ehemaligen
Jugoslawien ist es noch fast die Hälfte, bei denen aus den romanischen Ländern noch ein
gutes Drittel. Andererseits tragen Kinder, deren Eltern aus Jugoslawien stammen, zu einem
Drittel Vornamen, die in beiden Ländern gebräuchlich sind, während das bei den Kindern mit
romanischem Familienhintergrund zu fast 60 Prozent zutrifft. Zu Recht weisen Gerhards und
Hans darauf hin, dass sich die Ausgangssituation der drei Immigrantengruppen insofern
unterscheidet als die europäischen Einwanderer auf einen gemeinsamen Vorrat von Vorna-
men mit christlichem Hintergrund zurückgreifen können, während das bei den Türken nicht
der Fall ist. Vornamen, die nur in Deutschland gebräuchlich sind, werden von nicht einmal 5
Prozent der türkischen und von gut 5 Prozent der südwesteuropäischen Eltern vergeben,
während knapp 20 Prozent der Kinder, deren Eltern aus Jugoslawien stammen, Vornamen
erhalten haben, die nur in Deutschland gebräuchlich sind. Wie gering die Identifikation mit
der Aufnahmegesellschaft ist, wird auch daran erkennbar, dass nur knapp 20 Prozent der
eingebürgerten Türken ihren Kindern Vornamen vergeben, die in Deutschland üblich sind,
bei den eingebürgerten Jugoslawen sind es 60 Prozent. Auch dieser Befund stützt die Be-
obachtung, dass insbesondere Einwanderer aus der Türkei die deutsche Staatsbürgerschaft
lediglich unter Nützlichkeitsgesichtspunkten betrachten.
Der liberale Multikulturalismus, der in Deutschland in der Form eines verfassungsinte-
grierten faktischen Multikulturalismus auftritt, vertraut darauf, dass sich Einwanderer und
Einheimische durch Kenntnis und Anerkennung der Verfassung und ihrer Grundwerte mitei-
nander verbunden fühlen. In der Befragung von Hennes und Veit wusste allerdings nur ein
einziger muslimischer Jugendlicher, dass das Grundgesetz die Verfassung der Bundesrepu-
blik Deutschland ist, obwohl Verfassung und Grundrechte bereits Unterrichtsgegenstand
waren. Dagegen konnten alle befragten, ethnisch deutschen Jugendlichen das Grundgesetz
einordnen. Die deutsche Verfassung als Grundlage des Zusammenlebens zwischen Einhei-
mischen und Einwanderern scheint also fur die muslimischen Jugendlichen kein Thema zu
sein. Dieser Befund lässt, soweit er verallgemeinerbar ist, nichts Gutes erahnen fur das Mo-
dell eines verfassungsintegrierten Multikulturalismus. Verfassung und Rechtsordnung eines
Landes taugen nicht zum Identifikationsobjekt und Habermas' Verfassungspatriotismus
scheint tatsächlich nur eine blutleere Fiktion zu sein.
Wilhelm Heitmeyer befurchtet, dass die modernen Gesellschaften vor „schwerwiegenden
Zerreißproben" stehen.
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Moderne Gesellschaften sind Einwanderungsgesellschaften. In
Deutschland resultiert ein wesentlicher Teil dieser Schwierigkeiten aus einem ungelösten
Integrationsproblem. Der politische Integrationsdiskurs erweckt gleichwohl den Eindruck, es
gehe nur darum, die richtige sozialtechnologische Lösung fur das Problem zu finden. Nach
dieser Auffassung besteht die politische Herausforderung in der strukturell-funktionalen
Integration der Einwanderer. Diese Sichtweise, die z.B. dem Nationalen Integrationsplan
zugrunde liegt, sieht ihr Ziel darin, die sprachlichen Defizite der Einwandererkinder zu be-

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